Dorfcharakter

Letzten Samstag: Ich gehe mit Herrn A. ‚ ins Dorf’ – oder ins ‚Dörfli’, wie es hier in unserer Einwohnergemeinde liebevoll von den Einheimischen genannt wird. Und zwar führt uns der Weg für einmal nicht straight on an der Limmattalstrasse entlang, einmal links abgebogen und mit der Rolltreppe hinunter ins Coop. Nein – Herr A. braucht eine neue Brille und wir haben uns entschieden, nicht wie sonst mit dem Tram nach Downtown Switzerland zu fahren, sondern dem einheimische Gewerbe den Vorrang zu geben. Und so ziehen wir zu Fuss los, Richtung lokalem Optiker. Optikerin, besser gesagt. Die Türglocke kündigt unser Eintreten an, und wir finden uns wieder in einem retro-braun gehaltenen Verkaufsraum (wobei, retro hier wohl nicht die Absicht war), und sind umgeben von Brillenregalen mit Brillengestellen.  Die einzige Angestellte (oder Inhaberin?) des Ladens berät gerade eine deutsche Kundin (international!) und wir schauen uns schon mal um. Herr A. entscheidet sich für dieses und jenes, probiert rum und verwirft. Inzwischen ist die Deutsche fertig und die Frau Optikerin hat Zeit für uns. Und wie sie Zeit hat! Ungefähr zweihundert Brillenmodelle und drei Rauchpausen später ist die Wahl getroffen. Herr A. darf nun zum Sehtest antreten. Während des ganzen Auswahlverfahrens hat die emsige Frau übrigens zwei Kinderbrillen neu angepasst und einer alten Dame eine grosszügige Auswahl an Lupen bereit gestellt. Und dies, ohne uns aus den Augen und unserem Schicksal zu überlassen. Bereits steht ein weiterer Kunde geduldig im Laden. Ich aber habe mich auf die andere Seite des Sehtest-Computers gestellt und betrachte interessiert das Auge meines Mannes – dabei erhalte ich detailgetreue Erläuterungen des ganzen Spektrums der Augen-, der Iris- und der Hornhautschäden von Herrn A. Bevor es dann zur Gläser-Auswahl für das neue Gestellt geht, wird dem geduldigen Herrn seine Ware ausgehändigt und die alte Damen mit den Lupen hat sich für ein Modell entschieden und bekommt dies ordentlich eingepackt auf den Weg. Dazu gibt es für die Dame noch die Wegbeschreibung zum zweiten Uhrenmacher im Ort, weil doch der andere heute überraschend bereits um 13Uhr geschlossen hat.

Kurz und gut, nach rund zwei Stunden verlassen wir das Geschäft, Herr A. ist sehr zufrieden mit seiner Wahl und wir beide sind uns einig: So nett und zuvorkommend und so, ich weiss auch nicht, mit wirklichem Interesse und echter Leidenschaft für Augen und Brillen und was da alles noch so mit dran hängt, wurden wir – wenn überhaupt schon mal! – lange nicht mehr bedient. Mein Fazit: Ehret einheimisches Schaffen, fern ab von nationalen oder internationalen Ladenketten, Massenprodukten oder Riesenkaufhäusern. Hier, im Dörfli, weiss man noch, was man tut und wofür. Hier ist man mit Leidenschaft und Feuereifer bei der Sache. Geht mit echtem Interesse und grosser Sachkompetenz auf den Kunden ein. Herzblut, einfach. Und ich bin stolz, dass ich mich selber nun zu dieser Gilde zählen darf: Ich bin Gewerbetreibende in Höngg. Mit Leib und Seele.

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