Outing no 2

Dieser Blogeintrag ist allen Flugangst-Opfern gewidmet. Ich verstehe euch so gut! Leider ist es nur ein Blog-Beitrag, denn ich könnte locker ein ganzes Buch darüber schreiben. Aber der Beitrag ist dafür etwas länger ausgefallen.

In grosser Dankbarkeit auch an Steve – the one and only: Keiner hat mich dermassen von der Sicherheit eines Flugzeuges überzeugen können wie er.

Tag 0 bis 29. September 2011

Fliegen war noch nie mein Ding. Nicht, dass ich es deswegen hätte bleiben lassen (können). Nein, ich habe schon jede Menge stressbehafteter Reisen in diesen riesigen, weissen Monstern unternommen. Naja, riesig zumindest von aussen – im Innern wird man ja schnell eines Besseren belehrt. Eng. Sehr eng. Klaustrophobisch eng, sogar. Luft! Dies immer mein erster Gedanke beim Betreten eines Flugzeuges. Das freundliche Lächeln der Bord Crew geht an mir vorbei, ebenso der Korb mit dem dargebotenen Begrüssungsschöggeli. Ich blicke in den tunnelartigen Schlauch mit den vielen (viel zu vielen!) Sitzen und habe nur einen Gedanken: Luft – ich brauche Luft zum Atmen! In diesem Moment befinde ich mich in der Startposition zum finalen Ausbruch meiner Flugangst, die normalerweise ihren Anfang in der Sekunde nimmt, in der ich den Flug buche. Also irgendwann Monate oder Wochen vorher. Dann, wenn eigentlich jeder normale Mensch voller Vorfreude von seinem Trip träumt und es kaum erwarten kann. Ich nicht. Ich hoffe bis zur letzten Minute auf ein Wunder. Ein Streik, beispielsweise. Oder Überbuchung. Ich gebe zu, sogar einen Vulkanausbruch würde ich in diesem Fall in Kauf nehmen. Alles, bloss nicht fliegen müssen. Ich will am Boden bleiben. Ich habe deswegen schon geschenkte Flüge verfallen lassen, ganz zu schweigen von all den schönen Flecken auf dieser Welt, die ich wohl nie sehen werde.

Zurück zum Start: Ich kauere mich also in den mir zugewiesenen Sitz – immer am Gang! – und schnalle mich an, sobald mein Hintern das Polster berührt. Meine Hände fühlen sich an wie zwei eiskalte Waschlappen. Feuchtigkeit, die mir dafür in meiner Mundhöhle völlig abhanden gekommen ist. Ich bemühe mich vergeblich um eine unbeteiligte Miene und mustere die Mitreisenden mit Röntgenblick. Was sitzt da so um mich rum? Sind das wirklich alles harmlose Touristen? Sieht einer krank aus, wird dem auf der anderen Gangseite womöglich schlecht? Ohgottohgott, hoffentlich nicht. Als nächstes mustere ich die Crew. Die ist elementar wichtig. Die muss cool und vertrauenswürdig scheinen. Nicht, dass dies meine Angst lindert, aber falls etwas nicht stimmen täte, wäre alles noch schlimmer (falls möglich). Also, Mitpassagiere und Crew hab ich nun gecheckt. Es ist der Moment, in dem die Motoren hochfahren und wir zur Startposition rollen. Mir geht es immer übler, ich wünsche mir sehnlichst, aufstehen und zur Tür hinausrennen zu können. Ich ziehe es ernsthaft in Erwägung. Ich mache es nicht. Stattdessen schlingen sich meine schweissnassen Finger wie Tentakel um den Arm meines Mannes – sie werden dort bleiben, bis ich wieder festen Boden unter den Füssen habe. Wenn es wackeln wird, Turbulenzen kommen und bei Geräuschen, die ich nicht einordnen kann (also, eigentlich JEDES Geräusch), werde ich zudem mein Gesicht an seine Brust drücken und den Tränen nah sein. Wenn es nicht aufhört mit Wackeln und Geräuschen (was es so gut wie NIE tut) werde ich den Arm um ihn schlingen, unartikulierte Laute in sein Hemd jammern und mir wünschen, ich könnte mich in Luft auflösen. Mein Leben wird an mir vorbeiziehen und ich werde alles bedauern, was ich noch nicht gemacht, gesagt oder geschrieben habe. Ich werde sogar beten. Dann, wenn es in den Landeanflug geht, und ich wieder Erwarten noch am Leben bin, wird es schlagartig besser werden. Sobald die Maschine aufsetzt, wird mich eine unglaubliche Euphorie packen. Ich möchte jubeln, die Arme hoch reissen, tanzen, ich möchte den Boden küssen. Ja, ich würde sagen, von Tag 0 bis zum 29. September 2011 war dieser Moment der beste bei jedem Flug.

Aber nach dem Flug ist vor dem Flug. Und bereits beim Warten am Gepäckband packt mich wieder die Angst vor dem Rückflug….

29. September 2011 bis …?

Es steht mal wieder ein New York-Flug an. Nach glatten sechzehn Monaten, die ich mit viel Ideenreichtum, Glück und einer grossen Portion Verzweiflung flugfrei halten konnte, lässt es sich nun nicht mehr länger aufschieben. Ich habe diesen Stress satt. So satt. Ich bin bereit, alle möglichen, unmöglichen, abartigen, spirituellen, medizinischen, gottesfürchtigen oder kostenintensiven Massnahmen zu ergreifen. Ich buche eine Anti-Flugangst Coaching. Der Tag, an dem alles anders werden soll, ist der 29. September 2011. Ich bin skeptisch. Schliesslich habe ich bereits dreimal Alan Carr gelesen (Endlich frei von Flugangst), mich mit Substanzen zu beruhigen versucht, die wirklich hart an der Grenze zu illegalen Drogen liegen, mich mit viel Kaffee, viel Alkohol zugeschüttet, Kopfhörer aufgesetzt, Schlafmaske übergestülpt, Notfalltropfen geschluckt… alles ohne Erfolg.

Das Coaching: Im ersten Teil lerne ich eine Menge Theorie, über Ängste im Allgemeinen und Flugangst im Speziellen. Ich definiere meine ganz persönlichen Ängste in klaren Worten und mache mit dem Coach zahlreiche Übungen. Danach geht es in die Abflughalle. Zusammen schreiten wir die ganze Vor-dem-Flug-Route ab: Abflughalle, Check-in, Pass- und Sicherheitskontrolle, Gate. Alles wie richtig, bloss dass am Ende kein Flug auf dem Programm steht (ich will es ja nicht übertreiben…). Ich sehe endlich, was die Piloten im Cockpit so treiben, wenn ich seit einer halben Stunde angeschnallt auf meinem Sitz kauere und nix passiert. Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass die Jungs dort vorne bereits mit den ersten ernsthaften Problemen kämpfen. Oder dass sie noch gar nicht da sind und auf den letzten Drücker völlig verkatert hinter den Steuerknüppel schlüpfen und erst einmal ein Alka Selzer kippen müssen, um flugtauglich zu werden. Nichts von alledem. Die sind schon vor mir dort und machen den gefühlten hundertsten Sicherheitscheck der Maschine, prüfen die Passagierzahl, das Gepäck, die Instrumente. Das find ich gut. Der Coach und ich gehen weiter, zu einer Maschine, die auf dem ‚Parkplatz’ steht und heute nicht mehr abheben wird. Und hier treffe ich Steve. Der Mann, der mich auf meinem ersten Flug ‚danach’ in jeder Sekunde in Gedanken begleiten wird. Steve ist Techniker und zuständig für dieses Flugzeug. Ich darf mich ins Cockpit setzen und dann geht’s los. In vollendetem Englisch erklärt er mir alles – und ich meine wirklich ALLES! Jeden Kippschalter, Knopf, Hebel, jede Leuchtanzeige, Diode, Warnlampe (blau = alles ok, orange = bitte mal gucken, aber locker bleiben, rot = GUCKEN, aber easy, kann nix passieren). Er zeigt mir, dass, wenn dieses kaputt geht, man immer noch jenes hat, das die gleiche Funktion hat. Und wenn jenes auch kaputt geht, gibt es noch das da. Und das da kann wirklich so gut wie gar nicht kaputt gehen, weil es mechanisch ist. Aber auch WENN das da kaputt gehen WÜRDE, wäre alles immer noch nicht schlimm. Gut, verstanden. Er erklärt mir, warum der Pilot immer links sitzt (damit er den Passagieren beim Einsteigen zuschauen kann), und dass der Co-Pilot kein schlechterer Mensch ist, er hat bloss weniger Flugstunden als der ‚richtige’ Pilot. Auf meine ehrfürchtige Frage hin, ob er diese Maschine fliegen könnte, meint Steve bloss: Natürlich, aber er möchte nicht. Zu langweilig. Das überzeugt mich restlos.

So gehe ich an diesem Tag von dannen und bin gespannt auf meinen NYC-Flug in einer Woche. Ich warte auf das mulmige Gefühl, das schon lange hätte eintreten müssen. Es kommt nicht. Nicht zwei Tage vorher, nicht einen Tag vorher, nicht am Abend vorher. Auch nicht am Tag des Fluges. Nicht auf dem Weg zu Flughafen, nicht beim Betreten der Abflughalle. Ich fühle mich gut. So gut, dass ich am Schalter noch einen äusserst günstigen Upgrade in die Business kaufe. Man weiss nie, vielleicht kommt die Angst doch noch, dann hab ich sie mir wenigstens vergoldet. Check-in, Passkontrolle, Gate. Gott bewahre, ich bin immer noch die Ruhe in Person. Boarding. Ich esse die angebotene Schokolade, finde die Crew nett und richte mich auf meinem Sitz ein. Es hat diesmal irgendwie genügend Luft zum Atmen und überhaupt keine komischen Geräusche. Die übrigen Passagiere sind alle sympathisch, alle gut drauf, keiner kommt mir komisch vor. Wir rollen zur Startbahn, heben ab. Es wackelt nicht, das Rumpeln erkenne ich sofort als Fahrwerk, das eingezogen wird. Mein Mann kann in Ruhe den ersten von sechs Filmen gucken, ich kuschle mich in meine Decke und schlafe ein. Ich verpenne das ganze schöne Business Class-Menu und muss mich mit einem Käseplättli begnügen. Egal, alles egal, ich bin so was von entspannt. Im Nu sind wir am JFK. Ich verbringe eine wunderbare Woche in meiner Lieblingsstadt ohne einen einzigen Gedanken an den Rückflug. Am Tag der Abreise husche ich noch zu einem letzten Besuch ins Nailstudio. Die Zeit wird knapp und ich watschle in Flipflops in die Abflughalle, damit ich mir den Lack an den Zehennägeln nicht ruiniere. Diesmal gibt’s nur Holzklasse. Egal, egal, egal. Ich bin müde, gut drauf und ruhig. Ich gönne mir noch das Abendessen nach dem Start, dann mache ich es mir, so gut es geht, bequem – und weg bin ich für die nächsten sechs Stunden. Das leise Rütteln finde ich höchst angenehm, es hilft beim Einschlafen. Nach der Landung am frühen Morgen in Zürich bin ich ausgeruht und fit. Zugegeben, die Wahnsinns-Euphorie nach der Landung fehlt, was etwas schade ist. Aber um nichts in der Welt möchte ich meine neu erworbene Flieger-Coolness dagegen eintauschen. Dann lieber die komplett emotionsfreie Landung.

Ich stelle fest: Der Mensch kann DOCH fliegen. Aber noch schöner als fliegen ist das Gefühl, meine Angst überwunden zu haben. Die Welt steht mir offen – ich kann reisen, wohin ich will. Frei von selbergesetzten Grenzen, frei von Angst. Vogelfrei.

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