Outing no 1

Ein Besuch an der 2. Nationale ADHS Tagung in Nottwil (ADHS = Aufmerksamkeits-Defizistörung mit Hyperaktivität)

So hätte dieser Artikel anfangen sollen: Wie immer eine halbe Stunde zu früh, treffe ich um halb neun im SPZ in Nottwil ein.

So fängt der Artikel jetzt an: Mit zwanzigminütiger Verspätung treffe ich im SPZ in Nottwil ein. Zum Glück fällt mir in letzter Minute ein, mir das aktuelle Parkdeck zu merken – somit finde ich am Ende des Tages hoffentlich mein Auto wieder. Mit Pünktlichkeit habe ich es nicht so. Normalerweise komme ich zu früh, mindestens eine Viertelstunde. Aber der Alltag mit ADHS hält immer wieder Überraschungen bereit, und so komme ich heute zur Abwechslung zu spät. Aber ich bin weder die einzige noch die letzte, an diesem Samstagmorgen. Was ich hier mache? Ich schmücke mich mit den zwei Prädikaten «abgeklärt» und «Betroffene». Was soviel heisst wie: Bei mir wurde von einem Facharzt ein ADHS diagnostiziert. Genau wie bei vielen der rund 460 Besucher, die nun zusammen mit mir, mit Eltern von Betroffenen und mit einer Handvoll Fachpersonen in die Aula des SPZ strömen.

Hier bin ich richtig

Auftakt zur 2. Nationalen ADHS Tagung macht ein Podiumsgespräch unter der Leitung von Michael «Grosi» Grossenbacher, Komiker und ADHS Betroffener. Ich suche mir einen Platz hinten, nahe bei der Tür und am Ende der Reihe. So mache ich das immer, damit ich mehr oder weniger unbemerkt einen Abgang machen könnte, falls ich das Bedürfnis habe, mich zu bewegen. Wie zum Beispiel der junge Mann eine Reihe hinter mir, der während der nächsten halben Stunde dreimal nach draussen gehen wird. Kann ich verstehen.

Das Podium betreten jetzt Dr. Roland Kägi, Kinderarzt, Frau Nicole Zeitner, Coach, zusammen mit ihrem Patienten Adrian Geiger, Betroffener und Vater eines Sohnes mit ADHS. Und Emrah Kilic, mit Baseballcap, Cargohose und Turnschuhen. Betroffener. Grosi stellt ihn vor als den Mann, der bereits vor seinem dreissigsten Lebensjahr über 45 verschiedene Jobs innehatte. Ich kann bloss wissend lächeln und der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Und es wundert mich keineswegs, dass er zudem zweifacher Weltmeister im Freestyletanzen ist. Wie er da sitzt und offen und mit einer gehörigen Portion Selbstironie und Witz Episoden aus seinem Leben mit ADHS, aus seinem Leben vor und seinem Leben mit Ritalin erzählt, geht mir das Herz auf und ich weiss: Hier bin ich richtig, hier bin ich nicht allein.

und erste Entscheidungsschwierigkeiten

Nach diesem unterhaltsamen Auftakt gilt es nun, sich die Workshops auszusuchen. Zur Auswahl stehen nicht weniger als fünfzehn (15!) verschiedene Themen. Erste Entscheidungsschwierigkeiten – «Ernährung» oder «Partnerschaft»? «Medikamente» oder vielleicht «Kommunikation»? Schlussendlich entscheide ich mich für den Workshop «Erledigungsblockade». Ja, ich glaube, damit kenne ich mich ein bisschen aus. Ich finde den Raum fast auf Anhieb und sichere mir meinen gewohnten Platz nahe der Türe am Ende der Reihe. Doch – hilfe! – gleich zu Beginn findet Workshopleiterin und Ergotherapeutin Ruth Joss, wir sollten besser die Tische wegräumen und im Kreis sitzen. Stirnrunzelnd schiebe ich also meinen Tisch zur Seite und platziere meinen Stuhl zwischen zwei anderen Teilnehmern. Zwar gleich bei der Tür, aber ein Kreis hat eben keinen Anfang und kein Ende. Mitten zwischen allen lausche ich also den Worten von Frau Joss und ich stelle bald erleichtert fest, dass ich bei all dem Chaos in meinem Alltag wohl doch nicht an einer ausgeprägten Erledigungsblockade leide. Glück gehabt! Trotzdem ist der Workshop interessant.

Mein zweites Thema nach einem leckeren Mittagessen und mehreren Zigaretten ist «Partnerschaft». Der Raum liegt irgendwo im Untergeschoss vom SPZ und es dauert eine Weile, bis ich ihn finde. Logische Beschriftung funktioniert nicht bei mir. Ich glaube, die Beschilderung für die Tagung hat ein Nicht-Betroffener gemacht. Ich bin aber rechtzeitig da, mein Platz am Ende und nahe der Tür ist noch frei und ich nehme gespannt das Handout entgegen. Mist. Dieses Seminar habe ich schon bei der Elpos Schweiz Tagung in Zürich besucht. So gönne ich mir eine Pause mit Zigarette(n) und Obst. So gestärkt mache ich mich auf zu meinem letzten Workshop für heute: «Medikamente» bei Dr. med. Hans Rudolf Stricker. Auch hier werfe ich zuerst einen Blick aufs Handout und bekomme einen kleinen Schreck. Uff, so viele Folien, und jede bis auf die letzte Ecke voller Text! Wenn das mal gut geht… Zum Glück sitze ich auch hier gleich neben der Tür. Aber es geht gut. Ich lerne eine Menge über die richtige Medikation. Für mich zurzeit ein sehr aktuelles Thema und ich habe mir drei Seiten mit Fragen notiert, die ich meinem Arzt stellen werde kommende Woche.

Hallo Grosi, schön bist Du da

Zum Abschluss des Tages betritt noch einmal Grosi die Bühne und nimmt die Besucher mit in seine «Therapiesitzung». Dabei erfahren wir, wie Muhamed aus dem Irak die Bibel auf den neuesten Stand bringen würde und das Tschörtschu etwas gegen Ruccolasalat hat. Ausserdem wissen wir jetzt, wie man ein neues Mitglied in der Therapiegruppe begrüsst (Hallo XXX, schön bist Du da). Auch das mit dem Händchenhalten mit meinem Nachbarn (nur auf der linken Seite, rechts ist der Gang) kann ich ihm verzeihen. Denn er scheint zu wissen, wie unangenehm mir das ist mit meinen stets schweissnassen Händen, den er macht einen träfen Spruch darüber und alles ist gut. Ob er nun bloss ein Schnurri ist oder ein extrem kommunikativer Mensch – mich hat er zum Lachen gebracht und mir gezeigt, dass ein Leben mit ADHS auch Vorteile hat, wenn man seine Talente richtig nutzt und mit dem ganzen Resten leben lernt.

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